Das Trauma

 

DER SPIEGEL  18. Januar 2010 Von Thielke, Thilo

Amoklauf der Überlebenden

In Thailand gibt es ein Tierheim für Elefanten, die zu Killern wurden. Woher kommt ihre Angriffslust?

Wenn Natalie mit den Augen zwinkert, herrscht höchste Alarmstufe. "Dann bereitet sie einen Angriff vor", berichtet ihr neuer Besitzer Laithongrien Meepan, "sie stürmt einfach los und ist nicht mehr zu halten."

Seit etwas mehr als fünf Monaten lebt Natalie nun schon im "Elephantstay": einem Tierheim für aggressive Dickhäuter in Thailands alter Königsstadt Ayutthaya, ungefähr eine Autostunde nördlich von Bangkok. Ein 30 Quadratmeter großer abgesperrter Bereich wurde zu ihrer neuen Heimat, nachdem sie den Bruder ihres damaligen Besitzers totgetrampelt hatte - und dazu noch drei Mitarbeiter der Kautschukplantage, auf der sie als Arbeitselefant eingesetzt worden war.

Der Plantagenbetreiber hatte Natalie erst ein halbes Jahr vor dem Amoklauf gekauft. Tierheimchef Laithongrien bewahrte die 25-jährige Elefantenkuh schließlich für einen Preis von umgerechnet rund 12 000 Euro vor dem Einschläfern und nahm sie bei sich auf. Natalie passt gut in die Sammlung des Tierschützers, dessen Engagement durch Spenden finanziert wird: Insgesamt 18 Killerelefanten befinden sich bereits in seiner Obhut - allesamt Tiere, die mindestens einen Menschen auf dem Gewissen haben.

Jahrzehntelang etwa trottete Elefantenbulle Omchakawan friedlich durch Ayutthaya und ließ Touristen auf seinem Rücken reiten. Aus heiterem Himmel rastete er aus und trampelte vier Menschen tot. Scheinbar blutige Rache wiederum nahm die 68-jährige Elefantenkuh Boon Seuhm an einem Peiniger, der sie zehn Jahre zuvor mit Böllern beworfen hatte. Und gleich sieben Menschen tötete in der thailändischen Provinz Kanchanaburi ein namenloser Bulle; schwer verletzt wurde er in Ayutthaya eingeliefert und überlebte selbst nur knapp seine Raserei.

Tierschützer Laithongrien beherbergt außerdem noch 40 weitere "Problemelefanten", die dadurch aufgefallen sind, dass sie randaliert oder andere Tiere angegriffen haben. Resozialisierbar sind sie alle nicht; sie erhalten in seiner Einrichtung lediglich ihr Gnadenbrot.

Elefanten rasten beileibe nicht nur in Thailand aus. Erst vorvergangene Woche tötete ein einsamer Elefant in Kenia eine US-Amerikanerin und ihr einjähriges Kind. Den beiden war eine geführte Wanderung am Mount Kenya zum Verhängnis geworden. In Nepal starben Ende 2009 rund ein Dutzend Menschen bei Elefantenattacken.

Die amerikanische Psychologin und Ökologin Gay Bradshaw ist aufgrund eigener Nachforschungen überzeugt, dass solche Zwischenfälle zunehmen: "Das Verhalten der Elefanten hat sich verändert."

Bradshaw hält die Aggressionen der an sich eher friedlichen Großsäuger für stressbedingt - eine Folge des jahrelangen menschlichen Jagd- und Verdrängungswerks. "Die Menschen üben heute Terror nicht mehr mit einem Speer aus", sagt Bradshaw, "sie kommen mit Helikoptern und feuern aus Maschinengewehren, sie bringen Horror in apokalyptischen Dimensionen."

Viele Elefanten, glaubt die Verhaltensforscherin, seien traumatisiert und litten unter chronischem Stress - ganz ähnlich wie menschliche Überlebende von Bürgerkriegen und Völkermorden.

Elefanten werden gewildert, umgesiedelt, eingesperrt, ihres Lebensraums und ihrer sozialen Strukturen beraubt. Lebten vor hundert Jahren in Afrika noch einige Millionen Elefanten, sind es heute gerade einmal 500 000. Und da überwiegend die älteren Elefanten der Wilderei zum Opfer fallen, ziehen sich selbst überlassene Teenagerherden marodierend durch die Savannen.

Im südafrikanischen Pilanesberg-Nationalpark zum Beispiel vergewaltigten und töteten junge Elefantenbullen rund 50 Nashörner. Die Killerelefanten waren Überlebende von Herden aus dem Krüger-Nationalpark, die zuvor durch systematisches Abschießen dezimiert worden waren. Sie hatten, bevor sie durchdrehten, das Sterben ihrer Mütter und Geschwister mitansehen müssen. Nach ihrer Umsiedlung in den Pilanesberg-Nationalpark fehlten ranghöhere, ältere Männchen.

Je mehr sich Bradshaw mit dem Thema beschäftigte, desto mehr Belege fand sie für eine schleichende Verrohung. So lassen heute weitaus mehr Elefantenweibchen ihre Babys im Stich als früher. Und im südafrikanischen Addo-Elefanten-Nationalpark gehen 70 bis 90 Prozent aller Todesfälle von Elefantenbullen auf das Konto von anderen Bullen - ein früher untypisches Verhalten.

Der thailändische Tierheimchef Laithongrien achtet denn auch streng darauf, dass seine Killerelefanten einander nicht zu nahe kommen. Jeder ist angekettet.

"Wenn wir sie frei herumlaufen ließen, gäbe es ein Blutbad", erklärt Laithongrien. "Diese Elefanten sind wie Soldaten, sie wurden geboren, um Krieg zu führen."

 

20 Minuten 06. November 2013

Mentale Narben

Massentötungen traumatisieren Elefanten

Elefanten, deren Herden stark dezimiert werden, leiden noch lange unter dem Verlust ihrer Artgenossen. Sie sind aggressiv und es mangelt ihnen an sozialen Fähigkeiten.

Radikale Abschüsse von Elefanten, um in bestimmten Gebieten die Überbevölkerung in den Griff zu bekommen, traumatisieren die überlebenden Tiere. Die Traumatisierung der meist jungen Überlebenden sei dabei zweifach, erklären Karen McComb und Graeme Shannon von der britischen Sussex University imFachjournal «Frontiers in Zoology». Sie seien geschockt vom Abschuss ihrer älteren Familienmitglieder und später desorientiert, weil ihnen ältere Rollenmodelle fehlen.

Die Forscher hatten einen Elefantenbestand im Pilanesberg National Park in Südafrika untersucht, der ursprünglich aus dem Krüger Nationalpark dort angesiedelt worden war. Dort hatten Ranger in den 1980er und 1990er Jahren ältere Tiere als Massnahme gegen die grassierende Überbevölkerung abgeschossen und die Waisen umgesiedelt.

Die Forscher spielten dabei den Elefanten Rufe vor, die entweder von fremden oder ihnen bekannten Elefanten unterschiedlichen Alters und Status stammten. Als Vergleichsgruppe diente ein relativ ungestörter Elefantenbestand im Amboseli Nationalpark in Kenia. Die Reaktionen der Tiere nahmen die Forscher auf Video auf.

Paradoxes Verhalten

Es zeigte sich, dass die Amboseli-Elefanten sinnvoll reagierten: Ertönte der Ruf eines fremden Tiers, insbesondere von älteren, dominanten Individuen, scharten sie sich zur Abwehr um die Leitkuh. Bei bekannten Elefanten blieben sie ruhig. Die umgesiedelten Elefanten hingegen reagierten paradox: Sie zogen sich beim bekannten Tier zurück und zeigten keine Abwehr bei Eindringlingen.

Schon frühere Beobachtungen deuteten darauf hin, dass mit den Tieren in Pilanesberg etwas nicht stimmte: Verwaiste männliche Elefanten waren hyper-aggressiv und gingen auf Nashörner los, was Elefanten sonst nicht tun. Sie sollen in zehn Jahren über 100 Nashörner getötet haben.

«Unsere Studie zeigt, dass bei den umgesiedelten Elefanten wichtige soziale Entscheidungsfähigkeiten beeinträchtigt sind», erklären die Forscher. Vermutlich konnten die umgesiedelten Tiere sinnvolle Verhaltensweisen nicht von ihren älteren Familienmitgliedern lernen, folgern sie.

Soziales Lernen sei bei Elefanten, die in komplexen Familiengruppen leben, sehr wichtig. Erfahrene Individuen geben erfolgreiche Verhaltensmuster an jüngere Mitglieder weiter. Aus früheren Untersuchungen war bereits bekannt, dass eine Herde mehr Kälber durchbringt, je klüger die Leitkuh ist.

(jcg/sda)

 

Neue Zürcher Zeitung

Traumatisierte Elefanten

(sda) Radikale Abschüsse von Elefanten, um in bestimmten Gebieten die Überpopulation in den Griff zu bekommen, traumatisieren die überlebenden Tiere. Dies konnten britische Psychologen nachweisen: Die Elefanten sind aggressiv und es mangelt ihnen an sozialen Fähigkeiten.

Die Traumatisierung der meist jungen Überlebenden sei dabei zweifach, erklären Karen McComb und Graeme Shannon von der Sussex University im Fachjournal «Frontiers in Zoology». Sie seien geschockt vom Abschuss ihrer älteren Familienmitglieder und später desorientiert, weil ihnen ältere Rollenmodelle fehlen.

Die Forscher hatten einen Elefantenbestand im Pilanesberg National Park in Südafrika untersucht, der ursprünglich aus dem Krüger Nationalpark dort angesiedelt worden war. Dort hatten Ranger in den 1980er und 1990er Jahren ältere Tiere als Massnahme gegen die grassierende Überbevölkerung abgeschossen und die Waisen umgesiedelt.

 

Neon .de  13.12.2006 

Rache der Riesen

Jährlich sterben 500 Menschen durch Elefantenangriffe. Elefanten töten normalerweise nicht. Wissenschaftler sagen: »Wir haben sie dazu gebracht.«

Elefanten töten Menschen. Das fällt ihnen nicht schwer, denn sie sind groß und verfügen über gute Waffen. Wenn sie töten, schleudern sie ihren Gegner mit einem Hieb des Rüssels oder Stoßzahns zu Boden, fixieren ihn mit einem Knie auf der Erde und erdrücken ihn. Manchmal spießen sie ihn auf, indem sie die Spitze eines Elfenbeinzahns durch die Brust rammen. Das überlebt kein Mensch. Menschen töten Elefanten. Das fällt ihnen nicht schwer, denn sie haben Fahrzeuge und verfügen über gute Waffen. Wenn sie das Kalb einer Mutterkuh aus seiner Herde rauben, erschießen sie den Großteil der anderen Tiere: weil die ihr Leben geben, um das Kalb zu schützen. Wenn sie an das Elfenbein einer Herde herankommen möchten, dann zünden sie Handgranaten, die sie in die Mitte der Tiere werfen und die diese zerfetzen. Das überlebt kein Elefant. Die amerikanische Wissenschaftlerin Gay Bradshaw sagt: »Zwischen Menschen und Elefanten herrscht Krieg.« Bürgerkrieg. Gemeinsam mit einer Gruppe kalifornischer Wissenschaftler setzt sie sich seit ein paar Jahren mit dem Anstieg der Gewalttaten zwischen Menschen und Elefanten auseinander. 2005 veröffentlichten sie im amerikanischen Wissenschaftsmagazin »Nature« einen Artikel mit dem Titel »Elephant Breakdown« – der Zusammenbruch der Elefanten. Ihre Theorie: Der Mensch hat durch Wildern, Keulung und durch den Raub des Lebensraums die soziale Struktur der Elefanten zerstört. Ihre Herdenverbünde, ihre Traditionen sind im Begriff, sich aufzulösen. Die Elefanten leiden. Und reagieren, so Bradshaw, wie das die Opfer von Gewalt, von seelischer Grausamkeit tun: mit Gewalt. Dort, wo Elefanten heute auf natürlichem Territorium leben, in Afrika, Indien, Südostasien, funktioniert das Zusammenleben zwischen Mensch und Elefant nicht mehr. Tierschutzorganisationen wie die WWF mahnen nach wie vor an: Menschen nehmen Elefanten den Lebensraum, töten sie für Elfenbein, reißen ihre Herden auseinander. Dafür zerstören Elefanten nun den Menschen die Lebensgrundlage. Sie zertrampeln die Felder afrikanischer Bauern, fressen in einer hungrigen Nacht die Ernte eines Jahres weg. Und sie greifen an: Dörfer wie das kleine Kyambur in Uganda schützen sich mit tiefen Gräben, in die sie dorniges Gebüsch werfen, vor marodierenden Elefantenbanden. 2003 drang eine Herde in das Dorf ein, zerstörte Häuser, Hütten, die Maisfelder drumherum und stellte den Menschen, die versuchten zu fliehen, ihre bis zu sechs Tonnen schweren Körper in den Weg. In einem Gespräch mit der »New York Times« sagte der Ladenbesitzer Ibrah Byamukama: »Die Leute hier haben noch immer Angst. Die Elefanten werden zerstörungswütiger. Ich weiß nicht, warum.« »Die Vorfälle, in denen Mensch und Tier aneinandergeraten, nehmen seit etwa zehn Jahren zu«, sagt Gay Bradshaw. Mitte der Neunziger hätten Wissenschaftler deswegen eine statistische Kategorie eingeführt, den »Human-Elephant-Conflict«, kurz »H.E.C.«. Sie listen darin Zahlen wie diese auf:

• Im indischen Bundesstaat Assam haben Elefanten in den letzten zwölf Jahren 605 Menschen getötet. Im Staat Jharkhand starben innerhalb von vier Jahren 300 Menschen durch Elefanten.
• In Uganda wurden in den letzten 30 Jahren 90 Prozent des Elefantenbestandes vernichtet. 400 Tiere überlebten. Ein Drittel dieser Tiere ist jünger als fünf Jahre, viele davon Waisen. Ohne Führung schließen sich die männlichen Jungtiere zu aggressiven Banden zusammen, die ihre Umwelt terrorisieren.
• Die »African Elephant Specialist Group« der World Conservation Union nennt mittlerweile verhaltensauffällige Elefanten in ihren Berichten »Problemtiere« und kategorisiert sie als »Wildlife Pest«. Einwohner Zentralafrikas sagen, dass sie »Elefanten fürchten und hassen«. In Zimbabwe sprechen Bauern von »tief verwurzelter Feindschaft« und in Burundi geben Bauern als ihre größte Angst noch immer »Elefanten« an, obwohl sie diese dort schon vor Jahren selbst ausgerottet haben.



 

Frau Bradshaw, was ist mit den Elefanten los?

Sie reagieren nicht mehr artgerecht. In Indien und in Afrika trampeln sie Dörfer nieder, zerstören. Oder einer der seltsamsten Vorfälle, in Südafrika: Dort haben 1995 ein paar junge Elefantenbullen über 100 Rhinozerosse vergewaltigt, getötet. So etwas hat es noch nie gegeben. Dass Elefanten das Morden beginnen. Es kommt vor, dass beide Tierarten sich in der Natur gegenüberstehen und es zu einer Konfrontation kommt. Aber solche Zwischenfälle enden selten mit dem Tod.



 

Weil Elefanten nicht töten? 

Nein. Natürlich nicht. Sie sind Vegetarier, sie fressen keine anderen Tiere. Töten kostet Kraft. Tiere töten nicht, wenn es nicht unbedingt sein muss.



 

Trotzdem töten Elefanten immer häufiger Menschen. Was muss geschehen, damit ein Elefant angreift? 

Da ist schon das erste Problem: Elefanten greifen eigentlich nicht an. Sie drohen, wenn sie bedrängt werden, wenn sie Angst um ihren Nachwuchs haben. Sie wehren sich. In der Vergangenheit kamen bei solchen Zwischenfällen auch Menschen um. Aber Elefanten haben nie angegriffen, ohne dass man sie provoziert hätte. Sie sind keine Raubtiere, keine Tiger, keine Löwen. Sie töten nicht, um zu fressen.



 

Warum gehen sie dann in Dörfer? Bedrohen die Bewohner?

Erst einmal muss man sagen, dass Menschen, Bauern, immer noch zu nah an ihren Lebensraum heranrücken. Die Elefanten finden nicht mehr genug zu fressen, stehen unter großer Anspannung. Wenn sie in die Dörfer gehen, dann weiß ich, ist das oft der Fall, weil Menschen einen Elefanten aus ihrer Herde getötet haben. Die Elefanten kommen, um zu sehen, was aus dem toten Tier geworden ist. Sie suchen den Körper. Für Menschen sieht das nach Rache aus.



 

Nur ein kleines Missverständnis? Wir reden über Elefanten, die Angriffe auf Menschen starten und nicht spazieren gehen.

Klar ist das ein Missverständnis. Aber kein kleines. Elefanten sind große Tiere. Die können auch aus Versehen dein Haus umreißen, dich überrennen. Dann ist es ja auch so: dass das in früheren Jahren nicht passiert ist. Da haben Mensch und Elefant friedlich nebeneinander gelebt.



 

Vor Ihnen haben Wissenschaftler die Aggressivität der Tiere dem hohen Testosteronspiegel von Jungbullen zugeschrieben. Dem Kampf um Land und Nahrung. Das waren Tierprobleme. Sie schreiben, dass Elefanten die Symptome von schwer traumatisierten Menschen an den Tag legen. Wie kommen Sie darauf?

Vor hundert Jahren gab es in Afrika noch zehn Millionen Elefanten. Heute sind es 500 000. Ohne übertreiben zu wollen: Man kann hier von Massenmord sprechen. Und jetzt reagieren die Tiere, die überlebt haben, für ihre Art untypisch aggressiv. Sie töten. Im Addo National Park in Südafrika werden 90 Prozent aller männlichen Elefanten von anderen männlichen Elefanten getötet. In gesunden Herden sterben sechs Prozent der männlichen Tiere bei Rangkämpfen. Sie zeigen Verhaltensweisen, wie man sie bei menschlichen Opfern der posttraumatischen Stressstörung (PTSS) findet: abnormales Sozialverhalten, übersteigerte Aggressivität, die Unfähigkeit, in stressigen Situationen richtig zu reagieren.



 

Eve Abe, eine englische Verhaltensforscherin, die in Uganda aufwuchs, sagte in einem Zeitungsartikel, die Elefanten in Afrika wüchsen auf wie Kriegswaisen: traumatisiert wie die Kindersoldaten der Bürgerkriege.

Es sind nicht nur weniger Tiere geworden, sondern vor allem die Alten, die zum Beispiel für ihr Elfenbein getötet werden, fehlen jetzt. Meist fehlt die Matriarchin, die älteste Elefantenkuh, die eine Herde über Jahrzehnte führt und leitet. Damit fehlt der Herde alles: das Gefühl für Anschluss, Fortbestand, Kontinuität. Die Kälber werden von unerfahrenen, man kann sagen: Teenagermüttern erzogen, zu früh abgestillt, manchmal bleiben sie dann ganz auf sich allein gestellt. Um es kurz zu machen: Die soziale Struktur einer Elefantenherde ist so fein ausgeprägt wie die menschliche. Und sie bricht in sich zusammen. Den Elefanten
fehlen die Vorbilder. Sie haben keine Großmütter, Großväter, Onkels oder Tanten, die ihnen ihr Wissen weitergeben. Und, ja: Viele der Tiere haben den Tod ihrer Eltern durch Wilderer als Kälber miterlebt.



 

Jetzt sind sie traumatisiert wie Kriegswaisen?

In Afrika finden Sie heute Herden von 50 oder 70 Jungbullen, die sich zusammengeschlossen haben. Sie bewegen sich nicht mehr in ihrem traditionellen Familienverbund. In Afrika ist das besonders ausgeprägt, in Indien war das Töten von Elefanten ja noch lange Zeit verboten. Wir finden auch neurobiologische Indizien: Die Gehirne der Elefanten weisen im Kernspintomografen die gleichen Veränderungen auf, wie man sie bei menschlichen Opfern von PTSS findet.



* PTSS (Post Traumatic Stress Syndrome)

 

Aber Elefanten haben keine Menschengehirne.

Wir können ziemlich sicher sein, dass in diesen Fällen die Gehirnbereiche für die gleichen Aktivitäten zuständig sind. Die Erkenntnisse der menschlichen Traumaforschung stammen aus Tierversuchen. Man hat zunächst Schimpansen, Katzen, Hunde traumatisiert, um herauszufinden, welche Hirnregionen betroffen sind. Nachdem wir dieses Wissen am Menschen einsetzen, können wir damit auch wieder zurückkehren ins Tierreich.



 

Rächen sich die verstörten Elefanten an den Menschen?

Es gibt Leute, die von Rache sprechen. Für mich liegt der Fall wesentlich einfacher: Die Tiere sind schwer gestresst, traumatisiert. Sie tun, was sie können, um zu überleben.



 

Ein junger Elefant tötet einen unbeteiligten Dorfbewohner. Warum soll man ihn nicht erschießen? In Europa schläfert man Hunde ein,
wenn sie Menschen gefährlich werden.

Weil man damit die Gewalt nicht beendet, sondern fortführt. Das
ändert nichts an den Ursachen.



 

Soll man mit einem verhaltensgestörten Jungbullen umgehen wie mit schwer erziehbaren Jugendlichen?

Das ist keine Frage des Sollens. Wenn wir den Wissenschaften, die uns in anderen Bereichen unserer Kultur als wegweisend erscheinen, Glauben schenken, dann müssen wir erkennen, dass Elefanten uns Menschen neurobiologisch und psychologisch sehr ähnlich sind. Früher konnten wir behaupten: Elefanten sind anders. Das können wir heute nicht mehr. Ob man aus dieser Erkenntnis Folgen ableitet, ist eine ethische Frage.



 

Man könnte sagen: Mitgefühl gibt es auch unter Menschen nicht genug auf der Welt.

Menschen haben weder das Recht auf Gewalt noch auf Leid für sich gepachtet. Das gibt es in jeder Spezies. Indem wir Tieren gegenüber Mitgefühl zeigen, nehmen wir es Menschen nicht weg. Ich glaube, indem wir Tiere besser begreifen, schulen wir die Fähigkeit, unserer eigenen Art mit mehr Mitgefühl zu begegnen. In jedem Fall müssen wir uns entscheiden: Wollen wir in Zukunft mit Wildtieren leben und sind wir bereit zu tun, was nötig ist, damit sie leben können?



 

Wie helfen wir also den Elefanten?

Die einfachste Maßnahme: aufhören, gegen die Tiere Gewalt auzuüben. Die zweite: ihnen mehr Land geben. Darauf achten, dass ihre Herden intakt bleiben und sie nicht in beliebiger Konstellation, an beliebigen Orten über den Planeten schicken. Elefanten haben feste Pfade, seit Jahrtausenden. Als Drittes, und daran forschen wir gerade, kann man Elefanten tatsächlich mit den Mitteln der Traumatherapie behandeln. In Kenia versuchen Kollegen, die verwaisten Elefanten mit Hilfe von Ersatzmüttern wieder in eine feste Herdenstruktur einzubinden.



 

Warum mögen Sie Elefanten so gerne?

Weil Elefanten, wie alle Tiere, sehr, sehr ehrlich sind.



 

Selbst, wenn sie böse geworden sind?

Das sind sie nicht. Und nichts an ihnen ist kompliziert. Auch nicht ihr Schmerz.